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derStandard.at
Artikel vom 21. November
Alle Macht geht vom Grätzel aus


Montag, 22. November 2010

Die neue Stadtregierung verspricht den Wienern mehr direkte Demokratie - Noch-Stadtrat Schicker widerspricht: "Kein Bedarf an mehr Mitbestimmung"

"Was gedenken Sie im Bezug auf den Augartenspitz weiter zu unternehmen?", fragt ein User am Donnerstag Maria Vassilakou im derStandard.at-Chat. "Sofort in Angriff nehmen was schon längst hätte passieren müssen. Alle Seiten an einen Tisch bringen und retten was zu retten ist", antwortet diese. Vassilakou hofft, dass auch jetzt "noch das eine oder andere Anliegen der AnrainerInnen respektiert und umgesetzt werden" kann. Ein anderer User ärgert sich, dass die Anrainer der Zelinkagasse beim Bau einer Tiefgarage ohne Befragung "überfahren" wurden. Er will von Vassilakou wissen, ob sie Anrainern die Möglichkeit eines Votums geben würde. "Zunächst meine grundsätzliche Haltung: keine Garage ohne AnrainerInnenbefragung. Was den konkreten Fall anlangt, kann ich mehr sagen, wenn ich das Ressort übernommen habe", heißt es von Seiten der neuen Vizebürgermeisterin.

Wahlrecht reformieren
Ambitionen für mehr Mitbestimmung spiegeln sich auch im neuen Koalitionsabkommen wider: "Das Wahlrecht in Wien, die Möglichkeiten der Bevölkerung zur Beteiligung an demokratischen Entscheidungsprozessen sowie die parlamentarischen Kontrollinstrumentarien sollen weiter verbessert werden. Dazu gehört unter anderem ein modernes Verhältniswahlrecht". Mehr partizipative Demokratie, also politische Mitbestimmung und Mitwirkung der Wiener, soll die Einführung eines Petitionsrechts bringen. Auch Volksbefragungen in Bezirken oder Grätzeln sollen künftig möglich sein.

Bürgerinitiativen sind erfreut
Die Neuerungen freuen besonders die Bürgerinitiativen. „Ein Petitionsrecht ist eine sehr gute Sache", sagt Herta Wessely, Obfrau der Initiative Agenda 21, einem Verband von Bürgerinitiativen, im Gespräch mit derStandard.at. „Bis jetzt haben Parteien ein Thema vorgegeben und dann die Leute darüber befragt. Wir möchten aber in Zukunft unsere eigenen Entscheidungen einbringen", meint Wessely. Das Petitionsrecht mache dies in Zukunft möglich. Und auch die Einführung von Volksbefragungen hält sie für sehr wichtig: „Ich habe selbst erlebt, wie irgendwo in der Stadt ein Plan für ein Bauprojekt gemacht wurde, ohne die realen Umstände im Grätzel zu kennen".

Weniger Politikverdrossenheit
Wenn den Leuten vorort das Gefühl gegeben werde, bei Themen, die sie konkret betreffen, mitbestimmen zu können, würde das die Politikverdrossenheit enorm senken, meint Wessely. Die vielen Proteste gegen den Bau von Garagen könne man sich dann ersparen. Dem stimmt auch Klaus Werner-Lobo von den Grünen im Interview mit derStandard.at zu. „Politik für Menschen, aber nicht mit Menschen halte ich für einen Fehler. Bis wir aber wirklich eine partizipative Demokratie haben, liegt noch ein langer Weg vor uns", behauptet der grüne Politiker und stellt fest: „Wir haben Demokratie verlernt, weil Politiker zu oft über die Meinung der Bürger drübergefahren sind". Das denkt auch sein Parteikollege Rüdiger Maresch, einer der Beiträger des Abkommens: „Die Zivilgesellschaft ist in Österreich unterentwickelt. Da braucht es noch sehr viel Diskussionsbedarf".
Rudolf Schicker, Stadtrat für Stadtentwicklung und Verkehr (SPÖ), sieht das anders. Es bestehe "kein zusätzlicher Bedarf an mehr Mitbestimmung" der Bürger, sagt Schicker im Gespräch mit derStandard.at. Er warnt davor, dass zusätzliche Abstimmungen "mehr Rechtsunsicherheit, als Nutzen" bringen würden. Wichtig sei allerdings "bei Flächenwidmungsplanungen, die Bürger in einer frühen Phase ausreichend zu informieren".

Südamerikanisches Vorbild
Die positiven Auswirkungen von mehr Mitbestimmung ist bereits in anderen Städten sichtbar. Die Brasilianische Stadt Porto Alegre gilt als erste Stadt, die 1989 einen sogenannten Bürgerhaushalt einführte. Die Idee hat sich auch auf Europa ausgebreitet. Im Berliner Bezirk Lichtenberg wurde sie zum ersten Mal in Deutschland umgesetzt. Werner-Lobo sieht in der Südamerikanischen Stadt ein Vorbild für partizipative Demokratie. „Bei einem Bürgerhaushalt redet die Bevölkerung bei der Verteilung von Steuermitteln mit", sagt Werner-Lobo.
Maresch wünscht sich einen Fonds für Bürgerinitiativen, der von diesen selbst verwaltet wird. Ähnliche Projekte gibt es in Deutschland seit 1996. Dort fördern sogenannte Bürgerstiftungen als selbstständige und unabhängige Institutionen gemeinnützige Zwecke in den Städten. Die Vergabe der Mittel bleibt dabei transparent.

Salzburg als Best-Practice-Beispiel
Direkte Demokratie gibt es aber auch in Österreich. In Salzburg gibt es sowohl Abstimmungen und Befragungen als auch die Möglichkeit eines Volksbegehrens. Bei ersteren müssen zum Beispiel Beschlüsse des Gemeinderates über eine wesentliche Änderung des Stadtbildes die Zustimmung der Bürger einholen. Bei Themen, die den eigenen Wirkungsberich der Gemeinde nicht überschreiten, darf es auch Befragungen geben. Der Bürgermeister hat auch die Möglichkeit, eine Ja-Nein-Abstimmung auszuschreiben. Ein Bürgerbegehren darf eingereicht werden, wenn mindestens 2.000 stimmberechtigte Personen den Antrag unterstützen. Salzburg gehe damit einen guten Weg, meint Werner-Lobo. Jede Stadt sei verschieden und hätte verschiedene Ansprüche, man müsse eben „für Wien das beste Modell finden", meint man bei den Grünen.
Zurück in Wien: Über welche konkreten Themen es hier mehr Entscheidungsgewalt für die Bürger geben wird, könne man noch nicht sagen. „Doch auch den Weg dahin werden wir partizipativ gestalten", sagt Werner-Lobo, der eine Enquete zum Thema Mitbestimmung leiten wird. Die Bürgerinitiativen rüsten sich bereits. „Wir sind außerordentlich aufmerksam, bereiten uns vor und hoffen auf baldige Gespräche", sagt Herta Wessely. (dan, derStandard.at, 19.11.2010)

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