AKT!ON 21

Wut war gestern?
Die Lehren aus Stuttgart 21


Donnerstag, 29. Dezember 2011

Dürftig war die heimische Berichterstattung über das vorläufige Ende der Auseinandersetzungen um Stuttgart 21, noch dürftiger der mediale Kommentar. Wem nur die Wahl bleibt, im Winter zu erfrieren oder mit Atomstrom zu heizen, wird sich wahrscheinlich eher für ein Leben mit dem Risiko als für einen Erfrierungstod entscheiden. Das aber nur, wenn ihm zuvor die Möglichkeit verwehrt wurde, Wärme aus anderen Quellen zu beziehen.

Winfried Kretschmann ist Ministerpräsident von Baden-Württemberg geworden, weil er begriffen hat, dass mit AKW zu leben oder zu erfrieren für Lebenswillige keine tauglichen Alternativen sind. Wenn die politischen Mitbewerber nun glauben, der Volksentscheid für den Bahnhofbau sei ein Entscheid für ihre Betonpolitik gewesen, dann werden sie ihren Irrtum und ihre Uneinsichtigkeit bitter bezahlen. Wenn man ihnen Politiker wünscht, die klug genug sind, nicht so zu denken, dann ist die repräsentative Demokratie ganz schön gefordert.

Ein wahres Wort

Miriam Lau schrieb in „Wut war gestern“ (Die Zeit, 1. Dezember 2011): „Der entscheidende Mangel der Volksabstimmung vom Sonntag: Sie kam viel, viel zu spät. Stuttgart hat allen klargemacht: Wer Berge versetzen will, muss künftig vorher fragen, und nicht nur pro forma. Er muss auch wirklich eine Antwort haben wollen. Brauchen wir das? Können wir es uns leisten? Wie viele andere Bahnstrecken müssen dran glauben, wenn wir das machen? Das deutsche Planungsrecht ist darauf angelegt, die Leute vor vollendete Tatsachen zu stellen. Wer sich wehren will, hat noch die besten Chancen, wenn er sich auf den Artenschutz berufen kann – aber wer es dann tut, macht sich als Beschützer von Kammmolchen und Knoblauchkröten zum Schmock. Das muss sich ändern.“
Goldene Worte. Statt Stuttgart setze man Skylink, Lobau-Autobahn, Wien-Mitte, West- oder Hauptbahnhof, statt deutsches österreichisches Planungsrecht und statt Kammmmolchen und Knoblauchkröten den Ziesel, und schon sind wir mitten in unserer eigenen Urwiener Problematik angelangt.

Langer Lernprozess

Man sollte nicht vergessen, dass es der Geisler’sche Mediationsprozess gewesen ist, dem zu verdanken war, dass Einsicht für die weniger schlechte Alternative für das Abstimmungsergebnis entscheidend gewesen ist. Der plötzliche Erkenntniswandel, dem ungeliebten Bahnhof plötzlich um den Hals zu fallen, weil man seine goldenen Seiten zu spät erkannt hatte, das war’s wohl nicht gewesen. Wer sich in derart billige Schönrederei flüchtet, hat von Stuttgart keine Ahnung. Viel eher gerät er in den Verdacht, ein ähnlich bürgerfeindliches Verhalten populistisch zu rechtfertigen, bevor den Menschen auch hierzulande der Geduldfaden reißt. Weit sind wir davon ohnedies nicht mehr entfernt. Die Resistenz der Regierung, mit der vollen Budgetwahrheit herauszurücken, ist solcherart zwar verständlich, aber nicht wirklich hilfreich. Im Gegenteil: sie lässt Schlimmes erwarten.

Nicht überall, wo Partizipation draufsteht, ist Partizipation drin. Damit der Begriff nicht zum abgedroschenen Politschmäh verkommt, wie die zu Worthülsen degradierten Begriffe Arbeitsplatzbeschaffung oder Reichensteuer oder wie der als Synonym für Intransparenz missbrauchte Datenschutz, sollte er von der Politik sehr sparsam und wenn, dann ganz besonders effizient verwendet werden. Effizient in dem Sinn, dass man den Bürgerinnen und Bürgern nicht vorgibt, was sie darunter zu verstehen hätten, sondern dass man darauf hört, was sie selbst darunter verstehen. Man muss solche Menschen nicht mit der Lupe suchen oder darüber klagen, dass sie so schwer zu finden seien, dass ihnen eine ach so große Politikmüdigkeit die Lust zu politischer Anteilnahme geraubt habe. Man muss ja nicht gerade wegschauen: da sind zehn-, ja hunderttausende, mit vollem Namen und Anschrift identifizierbare Bürgerinnen und Bürger, die man nicht lange suchen muss, die schon initiativ geworden sind, die eine genaue Vorstellung davon haben, wie Bürgerbeteiligung nicht funktioniert und die daraus gemeinsam eine sehr genaue Vorstellung entwickelt haben, wie eine funktionierende Bürgerbeteiligung aussehen sollte. Die Stadt Wien hat um diese ihre Vorstellung ersucht, sie wurde schriftlich übergeben. Klar, unmissverständlich, präzise, durchdacht, und, was am wichtigsten ist, mit Augenmaß. Mit dem Wissen, was als Ergänzung und nicht als Verdrängung der repräsentativen Demokratie notwendig ist, damit Bürgerfrust und Bürgerwut gar nicht erst aufkommen. Sie alle wollen sich beteiligen. Die Politiker rufen: wir sind natürlich für Partizipation! Und doch findet einfach keine statt., die diesen Namen verdiente. Und so wächst der Frust, die Wut, schwindet das Vertrauen in die, die man gewählt hat. Es bedarf nur eines Funkens, damit das Pulverfass explodiert.

Helmut Hofmann
Aufgeschnappt Beitrag